Inhaltliche Charakterisierung
Einleitung

Behördengeschichte
Der Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 sah in Artikel 88 vor, dass in einem Teil Oberschlesiens (Regierungsbezirk Oppeln mit dem südlichen Teil des Kreises Namslau, aber ohne die Kreise Neisse, Grottkau, Falkenberg und den westlichen Teil des Kreises Neustadt) die Einwohner darüber abstimmen sollten, ob sie mit Deutschland oder mit Polen vereinigt werden wollten. Zur Durchführung dieser Abstimmung wurde in der Anlage zu Artikel 88 bestimmt, dass innnerhalb von zwei Wochen nach Inkrafttreten des Vertrages (10. Januar 1920) die deutschen, hier also: preußischen, Behörden das Abstimmungsgebiet zu räumen und die Verwaltung einem internationalen Ausschuß von vier Mitgliedern (Frankreich, England, Italien, USA) zu übergeben hätten. Dieser Ausschuß besaß - außer in gesetzgeberischer oder steuerlicher Hinsicht - alle Befugnisse der deutschen oder preußischen Regierung. Außerdem trat er an Stelle der Regierung der Provinz oder des Regierungsbezirks. Das Abstimmungsgebiet sollte in dieser Zeit von alliierten Truppen besetzt werden.
Der Ausschuß, bald "Interalliierte Regierungs- und Plebiszit-Kommission" (kurz: IK; französisch: Commission interalliée de gouvernement et de plébiscite) genannt, nahm unter französischem Vorsitz am 11. Februar 1920 seine Tätigkeit in Oppeln auf; die deutschen obersten Behördenvertreter verließen das Abstimmungsgebiet. Sowohl Deutschland als auch Polen waren, analog zu den üblichen diplomatischen Gepflogenheiten, bei der IK mit einem eigenen staatlichen Vertreter akkreditiert, da es sich bei dem Abstimmungsgebiet um ein völkerrechtlich vorübergehend autonomes Gebilde handelte. Die deutschen Interessen wurden seit Anfang März 1920 durch den "Deutschen Bevollmächtigten für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien" (zuvor auch als "Abstimmungskommissar für Oberschlesien" bezeichnet) Hermann Fürst von Hatzfeld, 1894 bis 1903 Oberpräsident der Provinz Schlesien, vertreten, der hierzu durch das Auswärtige Amt berufen wurde. Er trat am 12. Mai 1921 zurück; sein Nachfolger wurde sein bisheriger Vertreter Johannes Graf Praschma. Aufgrund der Übernahme der Verwaltung durch die IK und der mehr diplomatischen Rolle des Bevollmächtigten hatte dieser eher eine beobachtende Rolle inne; seine Tätigkeit bestand darin, an die preußische und die Reichsregierung aus dem Abstimmungsgebiet zu berichten, mit der IK namens der preußischen und der Reichsregierung zu verhandeln sowie, Ansprechpartner der Bevölkerung zu sein und, eher inoffiziell, die deutsch-schlesischen Organisationen zur Wählermobilisierung zu unterstützen.
Beim Preußischen Innenministerium wurde eine "Zentralstelle für die Abstimmungsgebiete" eingerichtet, die für den behördlichen Verkehr mit den zivilen Verwaltungsbehörden in den Abstimmungsgebieten zuständig war. Preußen war zudem durch den "Staatskommissar für öffentliche Ordnung" Robert Weismann und seinen Vertreter Dr. Spiecker in die politische Auseinandersetzung um Oberschlesien involviert.
Das zur Lösung der Zugehörigkeitsfrage vorgesehene Plebiszit fand am 20. März 1921 statt. Davor wie danach kam es zu polnischen Aufständen, die eine Grenzziehung im polnischen Sinne durchzusetzen versuchten; ihnen wurde von deutscher Seite mit dem Einsatz von Freikorps begegnet. Im Juni 1921 wurde schließlich ein Waffenstillstand mit einem Räumungsplan für das Abstimmungsgebiet beschlossen. Die Teilung Oberschlesiens wurde sodann gemäß dem Spruch einer Völkerbundskommission am 19. Oktober 1921 in Paris auf einer Botschafterkonferenz in Paris ratifiziert und am 15. Mai 1922 rechtskräftig. Neben den Deutschen Bevollmächtigten trat daraufhin der "Reichs- und Staatskommissar für die Übergabe und Überleitung des Oberschlesischen Abtretungsgebietes"; das Amt des Deutschen Bevollmächtigten hörte mit der Rückübernahme des Deutschland zugesprochenen Teils Oberschlesiens zum Staat Preußen und mit dem Abzug der IK im Juni 1922 auf zu bestehen.


Bestandsgeschichte
Die Registratur den "Deutschen Bevollmächtigten für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien" wurde nach Auflösung dieser Dienststelle dem Geheimen Staatsarchiv im Juli 1922 zur weiteren Aufbewahrung überwiesen (Akzession 129/1922). Nachträglich kamen noch einzelne Akten hinzu, die für Abwicklungszwecke zunächst beim Oberpräsidenten für Oberschlesien bzw. der Regierung in Oppeln zurückgeblieben waren und vom Geheimen Staatsarchiv erbeten wurden (Akz. 49/1924 und 63/1924). Einige Aktenstücke wurden unmittelbar an das Auswärtige Amt (Nr. 20, 29, 45 des Findbuches) und an den Deutschen Finanzdelegierten für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien (Nr. 32, 34, 35; 32 und 34 nachträglich zum Bestand gelangt) abgegeben.
Die Frage, ob für die Aufbewahrung dieser Registratur nicht das Reichsarchiv zuständig wäre, wurde seinerzeit verneint, da es sich zwar äußerlich und formell um einen "Deutschen" Bevollmächtigten, tatsächlich aber um eine rein preußische Dienststelle gehandelt hätte, die dem preußischen Minister des Innern unterstand. Die Überweisung an das Geheime Staatsarchiv, nicht an das Staatsarchiv Breslau wurde aus der Erwägung heraus für gerechtfertigt gehalten, dass der Bevollmächtigte als Vertreter der Preußischen Zentralregierung anzusehen war. Der Bestand gelangte durch die kriegsbedingten Auslagerungen schließlich in das Deutsche Zentralarchiv in Merseburg, von wo er 1993/94 nach Berlin in das Geheime Staatsarchiv PK zurückgeführt wurde.

Akten zum Deutschen Bevollmächtigten für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien sowie generell zum Konflikt um Oberschlesien sind in großer Zahl zu finden im Bestand GStA PK, I. HA Rep. 77 Innenministerium (hier v.a. Abteilung Ost-West, Titel 856: Deutsch-polnische Angelegenheiten; auch die Archivalien I. HA Rep. 77 Nrr. 5762-5769), sowie im Bestand GStA PK, I. HA Rep. 90 A Staatsministerium, jüngere Registratur (I. HA Rep. 90 A, Nr. 1104, 3757 bis 3765).
Die Akten des entprechenden "Deutschen Bevollmächtigten für den Abstimmungsbezirk Westpreußen" finden sich im Bestand GStA PK, I. HA Rep. 175 Deutscher Bevollmächtigter für den Abstimmungsbezirk Westpreußen.
Der Verbleib der Akten des entprechenden "Deutschen Bevollmächtigten für den Abstimmungsbezirk Ostpreußen" ist unbekannt.

Die Akten der Interalliierten Kommission als kurzzeitiger oberster Verwaltungsbehörde im Abstimmungsbezirk befinden sich im Archiv des französischen Verteidigungsministeriums (Centre d'archives du ministère de la défense), Série N 1920-1940: Commission militaire interalliée de contrôle en Haute-Silésie (4 N 100 - 4 N 103).

Die Akten des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte im Abstimmungsgebiet "Commandement Superieur des Forces Alliees en Haute Silesie") befinden sich im Staatsarchiv Oppeln/Polen: Commandant Supérieur des Forces Alliées en Haute Silésie Opole [Naczelne Dowództwo Wojsk Sprzymierzonych na Górnym Slasku w Opolu], 1919-1921.


Bestandsumfang und -aufbau
Der Bestand enthält 57 Verzeichnungseinheiten. Es handelt sich um Akten zur Verwaltung der Dienststelle des Bevollmächtigten, zu Fragen der allgemeinen Landesverwaltung, zu den internationalen und den Beziehungen zu den Allierten Besatzungsmächten sowie zur Volksabstimmung und der Auseinandersetzung mit Polen, hier mit einem Schwerpunkt bei der polnischen Aufstandsbewegung der Jahre 1920/21.


Bestandsverzeichnung
Die Verzeichnung der Akten im Geheimen Staatsarchiv im Jahr 1924 erfolgte nach den Ursprungsbezeichnungen der Akten. Beim vorliegenden Findbuch handelt es sich um eine Datenbankeingabe des Findbuches von 1924 (Retrokonversion). Eine Neuverzeichnung steht aus.


Die Akten sind zu bestellen als:
I. HA Rep. 171, Nr. ###

Die Akten sind zu zitieren als:
I. HA Rep. 171 Deutscher Bevollmächtigter für den Abstimmungsbezirk Oberschlesien, Nr. ###



Berlin, September 2012

Dr. Kober


Literatur:
- Haubold-Stolle, Juliane (2008): Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919-1956. Osnabrück.

- Hitze, Guido (2002): Carl Ulitzka (1873-1953), oder, Oberschlesien zwischen den Weltkriegen. Düsseldorf (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 40).

- Kiesewetter, Andreas (2001): Italien und Oberschlesien 1919-1922. Italienische Diplomatie und Besatzungstruppen im Umfeld der Volksabstimmung in Oberschlesien und der Teilung des Landes, Bd. 1: Dokumente zur italienischen Politik in der oberschlesischen Frage 1919-1921. Würzburg (Schlesische Forschungen, Bd. 8).

- Porte, Rémy (2009): Haute-Silésie, 1920-1922. Laboratoire des leçons oubliées de l'armée française et perceptions nationales. Paris

- Recke, Walter (1969): Die historisch-politischen Grundlagen der Genfer Konvention vom 15. März 1922. Marburg an der Lahn.

- Ritter, Rüdiger (2009): Die Geschichtsschreibung über Abstimmungskämpfe und Volksabstimmung in Oberschlesien (1918 - 1921). Eine Auswahlbibliographie. Frankfurt am Main, New York.

- Wilson, Tim (2010): Frontiers of violence. Conflict and identity in Ulster and upper Silesia 1918-1922. Oxford, New York.

Zitierweise
GStA PK, I. HA Rep. 171
Umfang: Angaben zum Umfang: 2 lfm (57 VE)
Bereitstellendes Archiv: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz